Warum sind alle so traurig?


Warum sind alle so traurig?

Huhu, ich bin’s, die Kiri. Könnt ihr euch noch an mich… riecht das hier nach Hering? Moment, ich muss mal kurz… nein? Okay, dann später. Könnt ihr euch noch an mich erinnern? Ich habe mich noch gar nicht so oft selbst zu Wort gemeldet, seit ich hier wohne. Doch heute will ich euch mal etwas fragen. Seit ein paar Tagen sind hier alle ein bisschen still. Frauchen weint ab und zu. Und ich bin ganz unsicher. Hab‘ ich etwas falsch gemacht? Weint sie wegen mir? Ich hätte den Schlappen doch wieder zurückgebracht, ich schwör! Das ist doch kein Grund zum Weinen. Frauchen hat doch noch ungefähr 124… äh, ich korrigiere: 123 andere Schlappen!

Frauchen und das schwatte Mädel kuscheln ganz viel. Allein. Hallooohooo! Ich möchte bitte auch liebgehabt werden!!! Und überhaupt: Ich weiß gar nicht, warum man mich ganz offensichtlich verhungern lässt. Ich war immer eine liebe Kiri.   

Als ich hier das letzte Mal in die Tasten gehauen habe, war ich noch neu und wusste noch nicht viel über das Leben in einer Familie. Aber es hat mir vom ersten Tag an ganz gut gefallen. Okay, das schwatte Mädel mochte mich zuerst nicht so, aber jetzt sind wir beide ein Herz und eine Seele, wir sind Arsch und Eimer, Bonny und Clyde, Waldorf und Statler. Wir unternehmen so viel zusammen, wir rennen und toben, wir buddeln zusammen, wir machen Dummheiten zusammen, wir kuscheln manchmal ein bisschen und teilen uns sogar für ein paar Minuten ein Körbchen, wenn keine von uns beiden den Platz am Fenster räumen will. Wir pöbeln zusammen Spaziergänger an, wir spielen ganz oft zusammen das Keksfangspiel. Mein Leben ist – abgesehen von der limitierten Nahrungszufuhr – perfekt. Apropos… mich plagt schon wieder so ein kleines Hüngerchen. Darf ich mal kurz gucken, ob die Katze von gestern… nein? Pfff… nichts darf man.

Irgendwas ist aber anders geworden. Die Schwatte riecht manchmal ein bisschen anders. Ich rieche eine Gefahr. Ich schnüffele an ihrem Maul, an ihrer Brust und an ihrem Hinterteil. Ich weiß nicht, es ist etwas nicht in Ordnung, das spüre ich genau. Aber ich kann es nicht zuordnen. Muss ich mir Sorgen machen? Ist das der Grund, warum alle so traurig sind? Riecht Frauchen es auch? Ich habe manchmal Angst und bin unruhig. Alle hier zu beschützen ist eine meiner Hauptaufgaben. Das möchte ich gut machen. Ich möchte immer das beste Mädchen sein. Aber hier kann ich nicht helfen.

Haben Frauchen und Herrchen mich überhaupt noch lieb? Ich bin schon mehr als acht Minuten nicht gestreichelt oder getätschelt worden. Und dass die Nachbarn am Zaun waren, wie jeden Tag, und uns gaaaaanz unauffällig Kekse zugesteckt haben, ist auch schon zwei Stunden her. Meine kleine Welt gerät aus den Fugen. Was mache ich nur? Ich habe so eine Angst. Und Hunger. Hunger habe ich auch. Ich gucke mal, ob ich unauffällig kleine Nagetiere im Garten jagen kann – aber eigentlich bin ich schon sehr, sehr schwach und entkräftet. Dieser Hunger bringt mich um. Vielleicht haue ich mich auch einfach erst einmal ein paar Minuten in die Sonne und gucke mitleiderregend. Ja, genau, das ist ein guter Plan.

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